Mut und Zuversicht in der Trauer

Einen geliebten Menschen zu verlieren, bedeutet auch Verlust von Sicherheit. Finanzielle Sicherheit, Geborgenheit, das Zuhause-Gefühl, geliebt werden, miteinander alt werden. Der Tod stellt die eigene Welt mächtig auf den Kopf. Unser Gehirn ist wie vernebelt, die einfachsten, routiniertesten Dinge funktionieren auf einmal nicht mehr. Schlüssel finden sich an anderen Orten wieder und der Einkauf im Supermarkt wird zur großen Herausforderung. Wir fühlen uns irgendwie verkehrt, nichts will richtig gelingen und Entscheidungen zu treffen ist purer Stress. Kollegen und Freunde verstehen uns nicht mehr, manche wenden sich sogar ab.

Wie soll man mit so vielen Unsicherheiten mutig durch die Trauer gehen? Und wie schaffen andere das?

Wir haben meist keine Erfahrungen im Umgang mit Tod und Trauer – worauf sollen wir also zurückgreifen? Der heilsame Trauerweg verläuft mitten durch den Schmerz. Das bedeutet, ich setze mich mit meiner Trauer auseinander. Das ist der erste und schwerste Schritt. Meist hilft es, mit anderen Menschen über die eigenen Gefühle zu sprechen. Im nahen Familien- oder Freundeskreis ist dies aber manchmal nicht möglich. Vielleicht war Kommunikation schon vorher ein schwieriges Thema, oft aber ist das Familiensystem selbst in Trauer. Und die ist individuell, jede und jeder hat eine eigene Art damit umzugehen.
Wer in deinem Umfeld hört dir zu und ist für dich da? Manchmal sind das Menschen, mit denen man gar nicht gerechnet hat. Menschen, die vielleicht ähnliche Erfahrungen gemacht haben oder einfach besonders zugänglich für deinen Kummer sind. Und manchmal sind es Trauerbegleiter.innen, wie ich, die freiberuflich, in Beratungsstellen oder Hospizen den Raum für deine Trauer halten.

Wenn du nicht reden magst, hilft es, sich schriftlich oder künstlerisch Zugang zu den eigenen Gefühlen zu verschaffen. Du kannst ein Trauertagebuch führen und beobachten, wie sich deine Trauer zeigt. Eine wunderschöne Idee finde ich auch ein Tagebuch, in dem du nur festhältst, welche eine gute Sache heute passiert ist, ein Moment, der im ganzen Schwarz ein Funkeln war. Nach einiger Zeit wirst du ein Buch voller Glitzermomente besitzen, das dir vielleicht ein Gefühl von Dankbarkeit beschert.

Der heilsame Trauerweg beginnt mit der Realisierung, dass der geliebte Mensch wirklich gestorben ist. Die Akzeptanz der neuen Realität fällt sehr schwer. Und doch ist genau diese Akzeptanz der veränderten Wirklichkeit der Schlüssel, mit dem wir die Tür zu einem neuen Leben aufschließen.
Aber was erwartet uns hinter der Tür? Hinter ihr liegt wahrscheinlich unwegsames Gelände. Wild und karg. Wie die Natur nach einem Vulkanausbruch. Unmittelbar nach dem Tod scheint alles Leben dort verschwunden zu sein, doch mit der Zeit wird der Boden wieder fruchtbar.

Mut ist Angst plus ein Schritt.

Dieser Buchtitel von Mischa Miltenberger trifft es: Mut ist Angst plus ein Schritt. Es geht nur um einen Schritt – in deinem Tempo. Der Trauerweg besteht aus kleinsten Schritten. Du stehst morgens auf? Das ist ein Schritt. Du gehst duschen und machst dich einigermaßen zurecht? Das ist ein Schritt. Du kochst dir etwas zu essen? Ein weiterer Schritt! Du sorgst für dich und dein Weiterleben. Nur darum geht es zunächst.

Tag für Tag, Schritt für Schritt. Schau doch einmal zurück, wie viele Schritte du schon gegangen bist! Du hast in diesem unwegsamen Gelände bereits einen Pfad getrampelt, wo vorher kein Weg war? Du darfst zurecht stolz auf dich sein. Es geht darum, in Bewegung zu bleiben. Dazu gehört auch, dass es mal einen Schritt rückwärts geht. Das ist wie beim Tanzen – rückwärts, vorwärts, seitwärts – wir bleiben in Bewegung und Erstarren nicht.

Doch wie schaffen wir es, diese wilde Trauerlandschaft zu durchwandern? Indem wir uns selbst besser kennenlernen. Es erfordert Geduld und Milde zu uns selbst. Anfangs leben wir fast ausschließlich in der Vergangenheit und in der Gegenwart. Erinnerungen durchziehen den Tag. Welche Spuren des lieben Verstorbenen kannst du aufnehmen und weiterführen? Was hätte ihm oder ihr gefallen? Was hätte euch gut getan? Und was würde dir jetzt einen Moment des Wohlfühlens bescheren? Eine klitzekleine Sache, zum Beispiel der Lieblingspudding oder durch den Wald spazieren?

In der Trauer lernen wir uns neu kennen. Wir übernehmen auf einmal Rollen, kümmern uns um Dinge, die wir früher aufgeteilt haben. Trotz der Überforderung schaffen wir es und haben uns sogar ein paar neue Skills draufgeschafft. Trauer kostet Energie, mehr Energie, als uns zur Verfügung steht. Und deswegen ist Selbstfürsorge so ein großes Thema. Wir verbrauchen Energie in der Trauer, also brauchen wir Kraftquellen zum Auftanken. Das kann ein Spaziergang sein oder der Pudding. Das können Gespräche sein oder künstlerische Tätigkeiten. Vielleicht ein altes Hobby, das wir wieder aufnehmen oder etwas, das wir schon immer mal machen wollten.

Der heilsame Trauerweg besteht also aus vielen kleinen Schritten. Aus Zeit, Geduld, Milde, Würdigung und Selbstfürsorge. In dieser Bewegung darf die Zuversicht wachsen. Die Hoffnung auf etwas mehr Sonnenschein in der kargen Landschaft, die zarte Pflänzchen am Wegesrand zum Wachsen bringt. Auf Regen, der den Boden nährt. Vertrauen, das Trauer eine natürliche Reaktion auf einen Verlust ist. Das Vertrauen, dass du alles in dir trägst, um diesen Trauerweg weiterzugehen. Und so darf die Zuversicht mit jedem neuen Schritt wachsen. Es ist ein Ausprobieren: wer bist du jetzt, was passt (noch) zu dir? Was darf bleiben, was kann weg?

Der innere Kompass und kreative Wegweiser.

Ich habe in den Jahren viel ausprobiert. Rückblickend könnte ich sagen, ich bin durch meine Vulkanlandschaft getanzt. Vor, zurück, seitwärts. Einiges habe ich behalten, einiges wieder verworfen.
Als Wegweiser dient mir mein innerer Kompass. Je mehr ich über mich selbst gelernt habe, desto besser konnte ich meinen Weg gehen, so sicherer wurden meine Entscheidungen. Ich wollte von Anfang an wissen, was Trauer ist und was sie mit mir macht. Und dann entschied ich mich, nicht der Trauer die Kontrolle über mich zu geben, sondern mit ihr gemeinsam zu leben. Ich lud sie ein, an meiner Seite zu sein, ich akzeptierte sie als meinen ständigen Begleiter. Neugierig erforschte ich meine Gefühle und das, was sie mit mir machten.
Wenn ich körperlich etwas wahrnehme, höre ich genauer hin. Ist es die Trauer, die mir etwas sagen will? Habe ich mich vielleicht übernommen, sollte ich eine Pause einlegen?

Um meine Orientierung zu schärfen, werde ich gerne kreativ. So erstellte ich mir ein Visionboard. Aus vielen Zeitschriften habe ich mir Bilder und Texte ausgeschnitten und auf einer großen Leinwand zu einem Wunschbild zusammen gestellt. Das Bild hängt in meinem Flur, ein Foto davon hatte ich einige Zeit als Bildschirmhintergrund.

Am Ende des Jahres schrieb ich eine Jahresrückschau und sammelte Fotos, die ich in den vorangegangen Monaten gemacht hatte. Diese dokumentierten gut, wie oft ich mit meinem Hund in der Natur spazieren ging. Und welche Menschen ich doch traf, weil ich wieder mehr unterwegs war.

Mir war es wichtig, wieder in die Kreativität zu kommen. Bei Tätigkeiten, auf die man sich konzentrieren muss, hat die Trauer auch mal Pause. Und das ist gut so – wären wir 24/7 nur traurig, würden wir explodieren. Also suchte ich mir bei der VHS und bei Boesner Kurse aus, die mein Interesse weckten. Am Ende des Kurses hatte ich etwas geschafft, ja, etwas erschaffen. Eine Wohltat. Und ich kam mit netten Menschen in Verbindung.
Für meine Schwiegermutter begann ich ein besonderes Projekt, ich nähte aus Carstens Hemden ein Kissen. Drei verschiedene Hemden, sein Namenszug aus Bundeswehrzeiten und ein Spritzer seines Parfums. Das Kissen wird heißt geliebt.

Im Künstlerbedarf habe ich mir ein tolles großformatiges Projektbuch angeschafft. Dort habe ich mich intensiv mit meiner Biografie auseinander gesetzt. Ich habe zum Beispiel aufgelistet, was ich in den letzten Jahren alles geleistet habe. Ich habe herausgefunden, dass ich wahrscheinlich hochsensibel bin und las entsprechende Bücher dazu. Ich habe hinterfragt, was meine Talente sind und welche Art von Beruf ich mir vorstellen kann (ich hatte meinen Job kurz nach Carstens Tod verloren).

Seit dem letzten Jahr begehe ich im Dezember die Sperr- und Raunächte mit der Freiraumfrau. In den Sperrnächten lasse ich jeden einzelnen Monat Revue passieren und in den Raunächten gibt es Impulse für das anstehende Jahr. So beschäftige ich mich sehr intensiv mit meiner Identität und mit meinen Wünschen.

Urvertrauen und Spiritualität.

Gelernt habe ich dadurch, dass ich ein großes Urvertrauen habe. Für mich ist generell das Glas halb voll, und durch die Sensibilität in der Trauer, dem Wunsch, dass von Carstens Energie noch etwas besteht, den Zeichen, die ich dem Universum pauschal zuschreibe – all das hat mein Urvertrauen bestärkt. Spiritualität war mir früher gar nicht bewusst, heute habe ich einen Zugang dazu. Ich mag es nicht esoterisch und ich glaube auch nicht unbedingt an Horoskope. Aber ich glaube an einen größeren Zusammenhang, daran, dass wir mit der Natur im Einklang leben sollten. Daran, dass es Energien gibt, die uns manchmal Wege aufzeigen.

Wofür sollte ich pessimistisch durch die Welt gehen? Dafür habe ich gar keine Energie übrig. Ich will heute nicht mehr die Welt retten, sondern den Fokus auf meinen eigenen Handlungsspielraum legen. Hier kann ich schalten und walten – und das gibt mir Sicherheit.
Ich reduziere den Nachrichten- und Social Media Konsum. Ich bin nicht mehr interessiert an den vorbei rauschenden, inhaltsleeren Videos, die nach Aufmerksamkeit heischen.

Es geht um den Trauerprozess und weniger um ein bestimmtes Ziel. Das Sprichwort „Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht“ trifft zu. Während Optimismus als Wunschaussicht eher auf das Ziel oder den Ausgang fixiert ist, bedeutet Zuversicht innere Stärke. Sie beinhaltet die Fähigkeit, auf dem Weg Spielräume für sich zu finden. Es ist die Hoffnung auf das Morgen, an dem die Sonne erneut aufgeht, ein kleiner Vertrauensvorschuss.
Es geht darum, bei sich selbst anzukommen. Ehrlich zu sich selbst zu sein, sich nicht mit anderen zu vergleichen, den Fokus auf das Gute zu richten und sich in seinem Handlungsspielraum zu bewegen.

Vom Werden und Wachsen.

Als ich Alexej in der Trauerbegleiter-Ausbildung kennenlernte, verstanden wir uns auf Anhieb. Witwe und Witwer, ähnliches Schicksal. Würde ich ein Symbol für ihn aussuchen, wäre es der Anker. Unsere besondere Verbindung führte dazu, dass wir den Wunsch hegten gemeinsam in die Welt der Trauerbegleitung einzusteigen und uns gegenseitig zu unterstützen. Dem offen gegenüberstehend formte sich mein Weg, als wäre er vorbestimmt. Mit Zuversicht konnte ich den ersten Schritt nach Hamburg setzen.

Seit einem Jahr lebe ich nun hier im Norden – mit allen Höhen und Tiefen. Wie oft wollte ich schon hinschmeißen und zurück in die sichere Burg, in meine alte Wohnung im Haus meiner Eltern.
Doch es gab nicht nur ein Hinzu nach Hamburg, sondern auch ein Wegvon Grevenbroich (dort zog ich nach Carstens Tod hin). In Grevenbroich hatte ich alles versucht, um mich heimisch zu fühlen und anzukommen: Ich saß kurzzeitig im Stadtrat, hatte eine Stelle bei der Wirtschaftsförderung, begann ein Online Studium und eine Selbständigkeit. Doch nichts fruchtete! Dies anzuerkennen und zu hinterfragen war ein mühevoller Prozess. Der dazu gehörte! Die Erkenntnis, dass dieser Ort für mich keine Zukunftsperspektive innehatte, war schmerzhaft. Ich fühlte mich lange Zeit wie eine Versagerin.

Geduld, Milde, Würdigung und Selbstfürsorge sowie tiefgründige Gespräche haben mir die Kraft geschenkt, in Hamburg zu bleiben und diesen unsicheren Zustand des Werdens und Wachsens auszuhalten. Tag für Tag setze ich immer noch einen Schritt vor die Angst. Immer einen mehr. Aus meinem Trampelpfad in der Vulkanlandschaft ist ein gut ausgebauter Weg geworden. Die Landschaft hat sich von einer wilden, düsteren und kargen Einöde in eine farbenprächtige, fruchtbare Fülle verwandelt. Meine Trauer ist auch meine Ressource, in ihr ist alles vereint: Schmerz, Traurigkeit und Einsamkeit aber auch Wachstum, Stolz und neue Fähigkeiten.
Das alles konnte ich nur erkennen, weil ich mich selbst kennengelernt habe. Ich werde und wachse und das sind Wachstumsschmerzen. Veränderungen nach einem Verlust sind kein Spaziergang, und doch lohnt sich der Weg. Ein neues Leben ist möglich. Eine zweite Chance.

Was würdest du tun, wenn du mutiger wärst?
Besprechbar

Mein neuer Podcast rund um Verlust, Veränderung und Neuanfänge.

Alexej Lachmann

Systemischer Trauerbegleiter, Witwer und Nun?, Hamburg

Freiraumfrau

Angelika Stüttgen-Bungert. Mentorin für Freiraum, Sperr- und Raunächte

Sabine Dinkel

Autorin von „Hochsensibel durch den Tag“, „Gute Tage trotz Krebs“ und „Krebs ist, wenn man trotzdem lacht“.

Christine Kempkes

Große Basisqualifikation Trauerbegleitung



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